Columbus geht in Rente

Was passiert mit Unternehmen, wenn der Gründer sich zurückzieht?

Gründer prägen Unternehmen

Soweit so trivial. Denn erst ihre Idee, ihr Mut und ihre Überzeugung haben dazu geführt, dass die Organisation überhaupt existiert.

Ganz natürlich richtet sich das Unternehmen nach seinem Gründer aus. Mitarbeiter fühlen sich von Idee und Person im Paket angezogen und kommen an Bord. Die Gründungsidee – gern auch Vision, Mission, Why, Purpose, Nordstern, … – bildet die handlungsleitende Referenz, danach richtet man sich aus. Das Vertrauen gilt dem Ideeninhaber, dem Gründer – dem Columbus.

Mit vereinten Kräften zieht man los, die Idee zu verwirklichen. Jeder – egal ob außenstehend oder Teil der Organisation – spürt die Kraft, die Überzeugung. Der Erfolg kommt fast spielerisch.

Natürlich ist allen klar: Den Erfolg verdanken wir unserem Columbus und seiner großartigen Idee! Er ist unser Held. Und wir, die Organisation, sind stolze Erfüllungsgehilfen und damit natürlich auch Teil des Erfolgs.

Man baut ihm ein Denkmal – meist nur im Geiste, manchmal jedoch tatsächlich – und die Organisation manifestiert ihren Glaubenssatz, dass die Anwesenheit des Columbus über Wohl und Weh, über Erfolg oder Untergang ihres Systems entscheidet.

Was aber, wenn Columbus eines Tages in Rente gehen will?

Oder keine neue Vision für dieses Unternehmen hat, nachdem seine erste erreicht wurde, und deshalb geht?

Allein die Sorge, dass das passieren könnte, genügt. Dann wird es sehr schnell sehr dunkel in der Organisation.

Orientierungslosigkeit. Angst. Der Ruf nach einem neuen Columbus und einem neuen Nordstern werden laut. Der Platz muss neu besetzt werden, nur so kann die Organisation überleben.

Exkurs: Wie eine Organisation überlebt

Man kann sich eine Organisation vorstellen wie einen Organismus, dessen einziges Bestreben darin liegt, sich am Leben zu erhalten. In ihren ersten Jahren lernt die Organisation, was ihr Überleben sichert – und zumeist on top, was sie noch größer und stärker macht. In unserem Fall ist das der Columbus mit seiner attraktiven Idee. 

Selbstredend ist sie also bestrebt, diesen Erfolgsgaranten zu konservieren. Wenn dieser nun bröckelt oder gar droht, vollständig wegzufallen, gerät der Organismus in helle Panik. Es ist, als würde ihm die Luft abgeschnürt, das Atmen fällt sofort schwerer, der Organismus hyperventiliert, die Handlungsfähigkeit fällt der Furcht zum Opfer. 

Fühlt sich übertrieben an? Mag sein. Dennoch erlebe ich so etwas in meiner Arbeit ständig. Die Mitarbeiter beschreiben es meist nicht so heftig, aber die Organisation verhält sich so. 

Um wieder handlungsfähig zu werden, muss also wieder der Normalzustand hergestellt werden. Sprich: Wir brauchen einen neuen Columbus! Sofort!

Dieser Mechanismus des „Mehr-Desselben“ ist enorm ressourcensparend, da sich die Orientierung der Organisation nicht verändern muss. Alles darf beim Alten bleiben.

Das Gefährliche daran ist, dass eine Organisation nicht antizipieren kann. Sie geht davon aus, dass die Zukunft der Vergangenheit gleicht, was in der heutigen Zeit in der Regel ein Irrtum ist. 

Zurück zu Columbus und seinen Ausstiegs-Ambitionen

Was für denkbare Optionen gibt es denn überhaupt, das Unternehmen auch in seiner „post-Columbus“ Zeit handlungsfähig zu halten?

  1. Den geforderten Ersatz-Columbus finden – mit neuer, attraktiver Vision
  2. Sich als Organisation eine neue Vision verordnen, die von allen getragen wird
  3. Das Muster modifizieren, indem aus einer Organisation mehrere, kleinere Einheiten gebildet werden, die jeweils einen eigenen Mini-Columbus an der Spitze haben
  4. Auf eine gemeinsam getragene Vision verzichten und sich dem Markt hingeben
  5. Auf Columbus verzichten und das Unternehmen ohne Speerspitze aufsetzen

Schauen wir uns das einmal etwas genauer an:

Variante 1: Den geforderten Ersatz-Columbus finden – mit neuer, attraktiver Vision

Man geht gezielt auf die Suche nach einem charismatischen, in der Organisation hoch geschätzten Kollegen. Jemandem, dem gern und oft gefolgt wird. Jemandem mit Ideen, die in der Organisation anschlussfähig sind. Den setzt man dann auf den Thron und bittet ihn zum Amtsantritt, noch fix seine Vision zu verkünden. 

Ein bisschen plakativ, Entschuldigung. Manchmal überkommt es mich einfach. 

Eine Vision, eine Überzeugung ist etwas, das man hat, oder eben nicht. Das kann man nicht verordnen. Wie ein Gefühl. 

Wenn eine Organisation also ihren neuen Columbus auserkoren hat und dieser schlicht keine (attraktive) Vision für das Unternehmen hat, dann ist das Pech – im Sinne von „ungünstig, aber nicht zu ändern“. Jeder Appell, jede Aufforderung an ihn, führen nun zu Business-Theater, in dem der bemühte Columbus sich nun irgendetwas ausdenkt (vermutlich mit Hilfe interner Gremien und externer Berater) und es auf ein Plakat schreibt. 

Im besten Fall entsteht in diesem Prozess tatsächlich eine neue Überzeugung in ihm, eine die er spürt. Und wenn diese dann noch mit der Organisation resoniert, ist alles nochmal gut gegangen. Puh. Allerdings, und das ist der Teil, der dabei zuverlässig ausgeklammert wird, passiert das nicht bestimmbar, sondern zufällig. 

Menschen neigen dazu, Kausalitäten herzustellen, um sich die Welt zu erklären und sie beherrschbar zu machen – auch dort, wo keine sind. Ob eine Überzeugung entsteht oder nicht, ist nicht vorhersehbar, nicht bestimmbar. Gelingt es aber, so wird in der Regel die Ableitung getroffen, dass genau dieser durchgeführte Prozess dazu geführt hat. Also wird der Prozess wiederholt und kopiert. Es entsteht eine best-practice, die keine ist. Aus Zufall wird eine Regel abgeleitet. Komplexitätsreduktion als Falle.

In den meisten Fällen übrigens entwickelt sich im neuen Columbus keine neue, lebendige Vision und am Ende eines langwierigen, kostspieligen Prozesses steht ein totes Dokument mit Worthülsen, das zwar die Erwartungen befriedigt, aber keinerlei Handlungsleitung darstellt. Das sind dann jene Unterlagen, die man am Ende des Jahres in einem all-Hands Meeting rauskramt und darauf verweist, dass man seiner Vision ja nicht nähergekommen sei. Es beginnt eine Fehlersuche an der falschen Stelle, weil nicht der Weg falsch war, sondern das Ziel nicht echt. Der Rest ist bekannt.

Variante 2: Sich als Organisation eine neue Vision verordnen, die von allen getragen wird

Da gibt es einige Parallelen zu Variante 1. Auch hier gilt der Grundsatz, dass man Visionen nicht verordnen kann. Der Ansatz ist also an sich schon eine Denkfalle. Verschlimmert wird die Situation hier nur noch dadurch, dass alle sich anschließen sollen. Die Konsensfalle schnappt zu. Der oben beschriebene Prozess wird einfach nur noch langwieriger, kostspieliger, ermüdender – und am Ende steht eine Entscheidung durch Ermattung.

Irgendwann, wenn jeder verstanden hat, dass es keine Einheitsvision geben kann (und wenn, dann wieder nur sehr zufällig), aber man das nicht laut sagen darf, wird ein Plakat geschrieben, auf dem etwas steht, was man als kleinsten gemeinsamen Nenner bezeichnen kann. Was wiederum impliziert, dass diese „Vision“ auf gar keinen Fall einen Unterschied im Handeln machen wird, da sie von niemandem wirklich getragen wird.

Variante 3: Das Muster modifizieren, indem aus einer Organisation mehrere, kleinere Einheiten gebildet werden, die jeweils einen eigenen Mini-Columbus an der Spitze haben

Die grundlegende Idee dieser Variante ist, die Organisation von einem Einzelnen unabhängig zu machen. Oft ist eine Organisation nach dem Ausstieg ihres Columbus traumatisiert und lernt: „Das darf uns nicht noch einmal passieren!“ Aus Selbstschutz heraus modifiziert sie also ihr Muster, indem sie zwar den Kern beibehält, aber die Wirkmächtigkeit reduziert.

Ein interessanter Ansatz, den ich zunehmend häufiger beobachte. Ob das eine schlaue oder weniger schlaue Idee ist, hängt von den Mini-Columbussen – Columbi, Columbini, Columben? – ab.

Der immer gültige Grundsatz lautet: Ideen, Visionen, Überzeugungen kleben am Menschen. Und zwar an einem. Das ist etwas Persönliches. Wie ein Gefühl. Ob ich jemanden liebe oder hasse oder ob er mir egal ist, kann ich mir nicht wirklich aussuchen. Natürlich kann ich etwas dafür tun, Gefühle zu ändern oder Überzeugungen, aber ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob es so klappt, wie ich mir das wünsche. Die Ergebnissicherheit fehlt einfach.

Also gilt auch hier, wie in Variante 1: Spürt eine Mini-Columbus eine Vision, die in seinem Bereich Strahlkraft entfaltet, also andere ansteckt – top! Ist dem nicht so, droht wieder Business-Theater mit Ressourcen-Verschwendung und Demotivation auf allen Seiten.

Variante 4: Auf eine gemeinsam getragene Vision verzichten und sich dem Markt hingeben

Auch eine gute Idee. Schließlich entscheidet final sowieso der Markt darüber, ob ein Unternehmen überlebt oder nicht. Aber welcher Markt? 

Ob ein Unternehmen Kühlschränke verkauft oder Schiffe baut, also welchen Markt es bedienen will, ist eine strategische Entscheidung, die logischerweise nur vom Unternehmen selbst getroffen werden kann. Eine Organisation muss also selbst festlegen, welchen Markt sie bedienen will und dann lernen, mit den dazu gehörigen externen Einflüssen erfolgreich umzugehen, die dieser Markt bereithält: Arbeitsmarkt, Wettbewerb, Technologie, Gesetze, … 

Hierbei gilt es, die Differenzierung zwischen „Markt“ und „Kunde“ zu berücksichtigen. Einen Kundenwunsch zu erfüllen bedeutet nicht, Marktbedürfnisse zu befriedigen. Meistens wird das fälschlicherweise gleichgesetzt. Kundenorientierung bedeutet, sich re-aktiv auf individuelle Kundenanforderungen auszurichten und sein Produktportfolio entsprechend zu gestalten, ebenso wie seine Wertschöpfung darauf zu optimieren. Marktorientierung hingegen bedeutet, sich pro-aktiv am Markt zu positionieren mit einem Angebot, dass für eine Vielzahl an Kunden relevante Probleme löst. Kundenorientierung basiert auf individuellen, vielfältigen Bedürfnissen, Marktorientierung hingegen basiert auf einer strategischen Wette, einer Annahme, wofür Kunden heute und in naher Zukunft bezahlen werden. 

Die Frage, ob ein Unternehmen nun ohne Vision erfolgreich sein kann oder ob es dann automatisch zum Spielball der Kunden wird, ist meiner Meinung nach nicht klar zu beantworten. Eine Vision ist landläufig ja sehr stark, groß, oft nahezu unerreichbar. Und dass es diese Form von Nordstern zwingend braucht, halte ich nicht für allgemeingültig. 

Allerdings bin ich sehr sicher, dass die Wahrscheinlichkeit, zum Spielball und damit zum Getriebenen zu werden, signifikant steigt, wenn es keine klare Ausrichtung gibt. Will heißen: Wenn ein Unternehmen sich selbst keine Orientierung gibt, muss es sich die Orientierung von außerhalb holen. Und das ist in der Regel nicht „der Markt“, sondern das sind die einzelnen Kunden mit ihren vielfältigen Interessen, mit denen die Organisation direkten Kontakt hat. 

Variante 5: Auf Columbus verzichten und das Unternehmen ohne Speerspitze aufsetzen

Auch ein Ansatz, dem ich immer häufiger begegne. Wenn ich diese Variante mit einem Satz beenden wollte, könnte der so lauten: Ein Unternehmen ohne Speersitze aufzusetzen ist unmöglich, weil es immer mindestens einen Inhaber gibt, der nun mal formale Macht über die Organisation hat.

Etwas ausführlicher ausgedrückt: Es hilft nichts, als Inhaber oder Geschäftsführer so zu tun, als ob man keine Leute entlassen oder die Firma schließen könnte. Weil man es kann. Das einzige, was man tun könnte, um seine formale Macht auf ein Minimum zu reduzieren ist, sie nicht zu nutzen.

Fraglich bleibt, ob das eine gute Idee ist.

Und zum ersten Teil der Variante, auf Columbus zu verzichten, ist neben allem bereits Ausgeführten noch zu ergänzen, dass ein leerer Platz immer die Gefahr birgt, dass ihn sich irgendwann irgendjemand schnappt, erst vorsichtig und im Verborgenen, bis er irgendwann so stark geworden ist, dass kein Weg mehr an ihm vorbei führt. Das Risiko besteht allerdings nur, wenn es diesen leeren Platz überhaupt noch gibt.

Wenn es der Organisation jedoch gelingt, sich neu aufzustellen, ohne diesen Platz, dann besteht auch diese Gefahr nicht. Neu aufstellen bedeutet in diesem Fall, eine Struktur zu schaffen, in der es Orientierung gibt, in der Verantwortung auf viele Schultern verteilt wird und in der Führung eher situativ und anlassbezogen erfolgt als formal verordnet und dogmatisch.

Ein Beispiel zur Veranschaulichung dieses Führungsgedanken: An Stelle eines „Head of Marketing“, der die Gesamtverantwortung für jegliches Marketing trägt, könnte es auch diverse Marketing-Rollen geben, an die jeweils gewisse Verantwortungen geknüpft sind. So wäre nicht einer für alles verantwortlich, sondern jede Rolle für Teile. Mensch und Rolle sind hierbei weder dogmatisch noch dauerhaft miteinander verbunden, sondern vielmehr situativ und in Abhängigkeit zu anderen Rollen. Will heißen: Der Mitarbeiter, der letztes Jahr eine grandiose Idee für einen Messeauftritt hatte und damit die entsprechende Rolle bekleidete, muss dieses Jahr nicht wieder eine solche Idee haben und ist somit auch nicht mit der Rolle verbunden.

Was bleibt?

Nach Beleuchtung all dieser Varianten – und es gibt derer sicherlich noch weitere – was bleibt da? Was tun wir denn nun, wenn unser Columbus in Rente geht?

Es gibt nicht die eine richtige Lösung, denn jede Organisation ist einzigartig und hat ihre eigenen Muster. Erst, wenn man diese versteht, kann sich einem eine passende Lösung offenbaren. Also gilt es, diese spezielle DNA, diese unternehmenseigene Kultur zu begreifen.

Auch wenn das vermutlich nicht das erhoffte Ende ist im Sinne eines „So geht es!“, hat dieser Artikel hoffentlich ein wenig dazu beigetragen, die Fallstricke besser zu erkennen und auf neue Ideen zu kommen.

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Anne Gründling

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